Er konzentrierte sich dabei auf die Themenbereiche „Politische Freiheit und Diskurs“ und beleuchtete zunächst anhand exemplarischer Textauszüge die Gedanken von Alexis de Tocqueville (1805- 1859), der anhand von Beobachtungen der noch jungen Demokratie der Vereinigten Staaten eine grundsätzliche Gefahr sah, die er „Tyrannei der Mehrheit“ nannte. Ausgehend von den Grundthesen Tocquevilles konnte im Anschluss der Blick auf die Ausführungen seines Zeitgenossen John Stuart Mill (1806-1873) gerichtet werden, der als Vordenker des Liberalismus gilt und ein brennendes Plädoyer für die individuelle Freiheit in seiner Schrift „On Liberty“ hielt. Dabei versteht er unter individueller Freiheit, die Anerkennung des Anderen als gleichwertig in seiner Andershaftigkeit. Das bedeutet das Zulassen der Möglichkeit anders zu sein, anders zu denken und anders über Dinge zu reden, als die Mehrheit es vom oder von der Einzelnen erwartet. Das sei aber nicht nur gut für den/die Einzelne/n, sondern auch wichtig für die Gesellschaft. Denn nur über einen Pluralismus der Meinungen und Lebensführungen könne es nicht nur einen Wissensfortschritt durch die Chance einer Fehlerkorrektur geben, sondern auch einen echten Wahrheitsfindungsprozess. Als für die Wahrheitsfindung wesentliche Bedingung erkannte Mill den Diskurs (= „Durchlaufen“ durch Kette von Argumenten), der nur in der Beziehung zu anderen Mitgliedern einer Gesellschaft und durch den Austausch von Argumenten stattfinden könne. Sinngemäß nach Sokrates, Nietzsche oder Hannah Arendt könne man das wie folgt zusammenfassen: „Wahrheit gibt es nur gemeinsam.“
In der zweiten Hälfte des Vortrags erfuhren diese Gedanken ihren anschaulichen Höhepunkt durch die Präsentation einzelner Kernszenen des Filmes „Twelve Angry Men“ aus dem Jahre 1957 des Regisseurs Sidney Lumet. Es handelt sich dabei um die Filmadaption eines Theaterstücks von Reginald Rose, die auf sehr eindringliche Weise die Hindernisse aufzeigt, die es zu überwinden gilt, wenn eine Jury von 12 Männern einen einstimmigen Urteilsspruch vorlegen muss. Dabei hält die Mehrheit der Jury (11 von 12 Geschworenen) die Schuld eines jungen Puerto Ricaners, der seinen Vater ermordet haben soll, zunächst für so offensichtlich, dass sie gar nicht erst einen Diskurs zulassen will. Einer von 12 Geschworenen jedoch weigert sich standhaft den Angeklagten, ohne vorangegangene Diskussion zu Tode zu verurteilen und löst so einen Prozess der argumentativen Wahrheitsfindung aus. Dieser wiederum lässt auf dramatische Weise viele Vor- und Fehlurteile, Schein-Fakten, emotionale Befindlichkeiten (wie Hass, Wut, Angst etc.), unverhohlenes Desinteresse und Egozentrik zum Vorschein kommen, auf die die 11 Geschworenen ihren anfänglichen Schuldspruch gründeten. Sie müssen im Laufe der Diskussion ihre Haltungen überdenken. Es war für uns als Publikum des 21. Jahrhunderts befremdlich zu sehen, wie sehr die ausgewählten Filmszenen aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts an den institutionalisierten Rassismus unseres aktuellen Zeitgeschehens erinnern. Dies kann wohl nur als Beleg für die zeitlose Bedeutung der Themen Wahrheit, Freiheit und Diskurs dienen und zeigt nicht zuletzt eine wesentliche Erkenntnis: Zur Demokratie und Rechtstaatlichkeit braucht eine Gesellschaft die Anerkennung einer anderen Meinung und Lebensführung und den Mut zur Begegnung auf Augenhöhe. Sprich den Mut zum sachlichen Diskurs.
Dr. Cursio gestaltete seinen Vortrag ganz getreu den obengenannten Prinzipien diskursiv, auf Augenhöhe und auf unerwartete Weise anschaulich und spannend. Die Interpretation der ausgewählten Passagen verlief immer interaktiv und im Gespräch mit der Zuhörerschaft. Die Beiträge wurden alle gewürdigt und die jeweiligen Schüler-Aussagen wurden dialogisch so weiterentwickelt, dass sie als roter Faden den Vortrag stützten und zugleich individuell mitgestalteten. Der Referent gab den jungen Erwachsenen genug Raum, um Beispiele aus der eigenen Lebenswirklichkeit anzuführen, ohne dass das Gefühl vermittelt wurde, dass dies nicht zu einem vorgefertigten Konzept passte. So vergingen die 90 Minuten Vortrag wie im Fluge und die Veranstaltung war mit den Worten einiger SchülerInnen nicht starr oder trocken, sondern sehr lebendig. Auch der Schwarz-Weiß Film beeindruckte durch seine schlichte Bildersprache und zeitlose Relevanz. Außerdem empfanden es die meisten ZuhörerInnen als gewinnbringend und bereichernd neue Impulse von einem externen Referenten und Philosophen zu erhalten, der nicht online, sondern in Präsenz mit ihnen den gleichen Raum teilte. Die Zusammenführung beider Ethik- Kurse erlaubte zudem Diskussionen mit anderen Perspektiven, als man es in seinem Stammkurs gewohnt war. Einen besonderen und unerwarteten Effekt entfaltete auch der Einsatz von Mikrofonen, die mit Hilfe der jeweiligen Kursleiterinnen durch den Raum wirbelten, um den SprecherInnen die Gelegenheit zu geben, sich kontaktfrei und trotz Maske Gehör in einem Doppelklassenzimmer zu verschaffen. Wir von der Fachschaft Ethik danken also dem unvergleichlichen und zuverlässigen Technik-Team des SGA, das stolz auf seine Expertise und Beherrschung seines State-of-the-Art Equipments sein kann. Wir danken dem Freundeskreis des SGA, der sofort bereit war, die Veranstaltung finanziell zu unterstützen, so dass die Schülerschaft keinen Aufpreis leisten musste. Wir danken den Mitgliedern der Schulleitung, die diese Vorlesung trotz schwierigen Hygiene-Maßnahmen ermöglichten. Wir danken Dr. Michael Cursio, dass er sich die Zeit nahm, extra für das SGA- Publikum der Ethik-Oberstufe eine so passgerechte, zeitgemäße und spannende Vorlesung zu konzipieren, die uns die Möglichkeit gab, unseren Schulalltag für einige Minuten zu vergessen und über die sonst vertrauten Eckpfeiler des Ethik-Unterrichts den weiten Horizont der Philosophie zu erahnen.
Fotos: Jenny Frank